Königsberg -
hier ist ein Teil meiner
Wurzeln, hier wurden meine Mutter und ihre Geschwister geboren.
Es muss irgendwann Anfang der sechziger Jahre gewesen sein, als
eine kleine Blechkassette, in der die wenigen Erinnerungsstücke
an die Stadt aufbewahrt wurden, meine Neugier weckte. Der Krieg
war lange vorbei und seine Spuren in Ostbrandenburg, wo wir
inzwischen lebten, getilgt. Meine Großeltern erzählten nicht
sehr gerne über ihre alte Heimat. Das Trauma des Krieges war
noch nicht überwunden, ihre Heimatstadt zerstört und
unerreichbar. Es tat noch weh und ich wollte ihnen nicht weh
tun.
Sie begleiteten mich ohne Verbitterung darüber, mit viel Liebe,
durch meine Kindheit. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch
geworden. Sie leben in meiner Erinnerung und ein Steinblock aus
Granit soll nicht das Einzige sein, was an sie erinnert.
Bereits im Sommer 1944 hatten meine Großmutter und die Kinder
Gerhard, 14jährig, Anneliese und Doris, damals 11 und 5 Jahre
alt, die Stadt verlassen, denn der Krieg kam zurück. Mein
Großvater war an der Ostfront und vermutlich war er es, der
darauf drängte, ahnend, dass die Front vor Königsberg nicht halt
machen wird. Gerhard kehrte nach den Sommerferien nach
Königsberg zurück. Er sah Ende August 1944 die brennende Stadt
und überlebte. Wie durch ein Wunder, blieb der nördliche
Roßgarten verschont.
Jetzt, im Juli 2003, wo ich dies schreibe, steht nur noch Doris,
das Nesthäkchen der Königsberger Tage, als "Informationsquelle"
zur Verfügung. Sie war 4-5 Jahre alt, als sie Königsberg
erlebte, ich 8-10, als ich das erste mal danach fragte. Es ist
also leider nicht sehr viel, woraus ein Bild jener Tage
rekonstruiert werden kann, aber den Versuch alle mal wert.
Der Schlossteich spielte in vielen
Erinnerungen meiner Großeltern eine Rolle. Wie viele
Königsberger, zog es auch sie immer wieder dort hin. Der
Spaziergang mit den Kindern um den Schlossteich herum war ein
beliebter kleiner Ausflug und niemals langweilig. Man konnte
Kahn fahren, die Enten und Schwäne füttern und sich im Sommer
etwas Abkühlung verschaffen. Auch die Kaskaden am Nordende waren
für die Kinder immer beeindruckend. Die Ostsee, oder eher das
(Frische) Haff waren zwar nicht sehr weit, aber eben eine kleine
Reise mit Straßenbahn, Bus und/oder Bahn. Wohnte man in der
Kuplitzer Straße 6a (Stadtplan 1934, M-5), wie meine
Grosseltern, hatte man sozusagen ein Wassergrundstück. Ein paar
Schritte bis zum Hinterroßgarten, am Städtischen Krankenhaus
vorbei und schon war man da - kaum 200 Meter zu laufen. Hielt
man sich am Krankenhaus rechts und ging den Roßgarten entlang,
ereichte man in wenigen Minuten den Oberteich mit seinen
Badeanstalten. Hier, am nördlichen Ende des Roßgarten, war auch
das Roßgärter Tor zu finden. Warum also in die Ferne schweifen
... und wärmer war das Wasser sowieso. Und im Winter? Der selbe
Weg, nur dass man nicht das Badezeug, sondern die Schlittschuhe
dabei hatte.
Eingekauft wurde in Tänzers Kolonialwarenladen. Für viele andere
Erledingungen musste man halt in die Innenstadt, was am
einfachsten mit der Straßenbahn (Linie 1 Richtung Hauptbahnhof)
zu bewerkstelligen war, wenn man auf dem Roßgarten zustieg.
Auch Besuche im Tiergarten, draußen in Mittelhufen und die
akkurat verschnittenen, kugelrunden Bäume auf der Schlossallee,
sind erinnerlich.
Insgesamt muss man sich Königsberg als eine grüne Stadt
vorstellen, umgeben von Grün. Der Pregel mit der Insel inmitten
der Stadt, Schlossteich und Oberteich runden das Bild von einer
sehr lebenswerten Atmosphäre ab.
Allerdings war Königsberg auch
immer ein vorgeschobener Militärposten, was sich in der
ungeheuren Anzahl von Kasernen und der damit verbundenen
Militärpräsenz am Ort widerspiegelte, die aber einfach dazu
gehörte. Allein in unmittelbarer Umgebung der Kuplitzer waren
einmal die Roßgarten-, Kronprinz- und Kürassierkaserne. Dieser
Umstand und vor allem die beiden nahen Krankenhäuser
(Städtisches- und Krhs. d. Barmherzigkeit) ließen die Anwohner
den Kriegsbeginn deutlich spüren, auch wenn er sich zunächst
immer weiter von der Stadt entfernte.
Ende August 1944 suchte er die Stadt mit katastrophalen Folgen
heim. Wie Dresden, Hamburg oder Köln wurde Königsberg, in nur
zwei Nächten, durch Bombenangriffe dem Erdboden gleich gemacht.
Nach dem Krieg konnte und sollte das russische Kaliningrad
nicht mehr an das alte Königsberg erinnern. Ein historischer
Wiederaufbau fand nicht statt und heutige Besucher der Stadt,
können das alte Königsberg nur erahnen.
Wenden wir uns nun den Hauptbeteiligten dieser Geschichte zu.
Fuhr man von Königsberg mit dem
Auto oder Autobus in Richtung Labiau/Tilsit, kam man nach etwa
15 Kilometern nach Konradswalde. Hier wurde am 15.12.1903
Anna Glaubach geboren. Über Annas Kindheit und ihre Eltern
ist nur noch wenig bekannt. Sie hatte zwei jüngere Geschwister:
Johanna (Hanne) und einen Bruder. Anna arbeitete im örtlichen
Gasthof oder in einem davon. Jedenfalls lernte sie hier Ende der
zwanziger Jahre Georg Fehrke kennen. Georg kam aus
Königsberg. Hier wurde er am 14.10.1900 geboren. Sein Start ins
Leben war nicht gerade ein Volltreffer. Er ist das Ergebnis
eines "Seitensprunges" einer wohlhabenden Dame aus angesehenem
Hause und wurde umgehend zu Adoptiveltern gegeben, den Fehrkes.
Dort wuchs er mit seinem jüngeren Stiefbruder Ernst auf. Als er
Anna kennen lernte, hatte er bereits eine kleine Tochter,
Hertha, deren Mutter bei ihrer Geburt starb. Die beiden finden
Gefallen aneinander und kommen sich näher. Sehr nahe. Anna wird
schwanger. Am 13.02.1930 erblickt Gerhard das Licht dieser Welt.
Damals keine so schöne Situation für Anna. Schließlich heiraten
beide noch im selben Jahr und ziehen zusammen nach Königsberg in
die Kuplitzer Str. 6a. Anna wird sich nunmehr ausschließlich um
die Kinder kümmern, während es Georg immer versteht, die
Familie gut zu versorgen. Gelernt hat er Eisenflechter, aber die
Baukonjunktur hat Ende der Zwanziger frei. Er schlägt sich
durch. Plötzlich verdoppelt sich die Anzahl der Personen, die er
zu versorgen hat. Er findet als Schauermann im Hafen Arbeit -
eine sehr begehrte Arbeit, fällt doch immer mal irgendwo ein
Sack mit Kaffee herunter und platzt auf, oder eine Kisten mit
Südfrüchten. Anna muss nicht mehr so oft zu Tänzers Laden, denn
Kaffee, Apfelsinen und Bananen bringt Georg mit, die man sich
vielleicht sonst auch nicht geleistet hätte. Es geht ihnen gut,
denn er verdient auch nicht schlecht dabei.
Georgs Leidenschaft gehört den Tieren. Es scheint so, als
spräche er ihre Sprache. Ich erinnere mich an viele Erlebnisse
meiner Kindheit im ländlichen Brandenburg, in denen Opa mit
Tieren zu tun hatte, z.B. als Schäfer. Seine Lieblinge aber
waren Hunde. Es gab genügend bissige Exemplare, sogar solche,
die nur den Besitzer an sich heran ließen - er machte den
Zwinger auf und ging hinein, als wären sie Freunde, was sie auch
waren, als er wieder heraus kam. Es war unglaublich. Vielleicht
wäre er anderswo "Hundeflüsterer" geworden.
Zurück nach Königsberg: Schließlich wurde er also Schweizer
(damals übliche Berufsbezeichnung für jemanden, der Kühe
pflegte und melkte) auf einem nahe gelegenen Gut und es gab
ausreichend Milch für die Kinder und hin und wieder einen
Rinderbraten.
1931, am 04.03. wird Anneliese erstmals urkundlich erwähnt, die
das Schicksal mir als Mutter auswählte und nach einer etwas
längeren Erholungspause am 03.02.1939 Doris. Alle Kinder werden
zwischen dem 3. Februar und 4. März geboren, was wieder einmal
die besondere Bedeutung des Wonnemonats Mai unter Beweis stellt
und wovon man damals offenbar konsequenter Gebrauch machte.
Die Familie Fehrke führte ein
ganz normales Königsberger Leben, wenn sie auch zu denen
gehörte, die die politische Entwicklung im Deutschland der
dreißiger Jahre mit großem Unbehagen verfolgte. Spätestens 1939
wurden die Folgen dieser Entwicklung im äußersten Osten
Deutschlands zuerst und am deutlichsten spürbar.
Georg wird 1942 zur Wehrmacht einberufen. In Wilhelmshaven
bekommt er eine Ausbildung, das Jahr 1943 verbringt er in Wien -
er gehört noch zur Reserve. 1944 schließlich kommt er an die
Ostfront, in die Gegend von Krasnodar, wo er bald in
Gefangenschaft gerät. Er hatte Glück, wie fast alle aus der
Familie. Lediglich der kleine Bruder meiner Großmutter, dessen
Namen ich bisher nicht herausfinden konnte, starb im Krieg.
Der Rest ist schnell erzählt: Anna und die Kinder Anneliese und
Doris kamen im Sommer 1944 nach Cunnersdorf, 30 km nördlich von
Dresden, wo Doris noch heute lebt. Sie wurde Pionierleiterin,
arbeitete in einem Textilbetrieb und war letztendlich für die
Koordinierung der Kulturarbeit des Kreises Großenhain zuständig,
bevor sie vor ein paar Jahren in den wohlverdienten Ruhestand
ging. Gerhard kam als 15jähriger beim Angriff auf Königsberg mit
seiner gesamten Klasse zum Volkssturm. Er wird einer von zweien
sein, die überleben. Er sieht russische Panzer durch das
Roßgärter Tor kommen, dann trifft ihn ein Granatsplitter im
Kopf. Kameraden schleppen ihn irgendwie bis Pillau. Vor dort
geht es mit einem der letzten Schiffe Richtung Dänemark. Nach
Aufenthalten in verschiedenen Lagern, kommt er im Frühsommer
1947 zur Familie und setzt im September die Schule fort. Er
studierte Hüttenwesen in Freiberg und gehörte viele Jahre in
verantwortlichen Positionen zur Betriebsleitung des
Braunkohleveredlungskombinates Schwarze Pumpe. Er verstarb 2001,
noch bevor ich dieses Projekt begann.
Ihre Halbschwester Hertha ging früh nach Hamburg zu ihrem Onkel
Ernst, der Schiffskapitän war. Sie siedelte nach den USA aus, wo
sich ihre Spuren in Chicago verlieren, nach denen bislang aber
auch noch keiner suchte.
Anneliese wollte eine Verwaltungslaufbahn. Ihr Weg führte sie
Anfang der Fünfziger nach Ostbrandenburg in das Dörfchen
Dammendorf. Hier wurde sie 1953 Bürgermeisterin, eine der
jüngsten der Republik. Sie blieb es bis zu ihrem Tode 1986. Auch
in Dammendorf waren Flüchtlinge untergebracht. Die Pischels
kamen aus Nieder Tillendorf in Schlesien und Horst, Jahrgang
1934, hatte ein Auge auf die hübsche Blonde aus dem Norden
geworfen. Ihm habe ich meine Existenz zu verdanken, die dort
1954 ihren Anfang nahm.
Annas Schwester Hanne lebte nach dem Krieg im thüringischen
Nordhausen, was leider bislang alles ist, was ich von ihr weiß.
Anna und Georg. Auch Georg überlebte Krieg und Gefangenschaft
und kam 1947 nach Cunnersdorf. Seine Erfahrungen als Schweizer
waren gefragt, denn zuerst musste die Ernährung gesichert
werden. So ging es der Familien auch in den schweren Zeiten gut,
Hunger mussten sie jedenfalls nicht leiden. Mit dem Aufbau der
Wismut AG und den damit verbundenen Verdienstmöglichkeiten, zog
es ihn 1949 nach Thüringen. Er brachte es bis zum Obersteiger.
Anna und die Kinder blieben in Sachsen, sie sollten nicht schon
wieder umherziehen und endlich Ruhe finden. Mit dem Aufbau der
Braunkohlenindustrie in Südbrandenburg, speziell in Lauchhammer,
hatte Georg die Chance, seiner Familie näher zu kommen. Die
Kinder waren mittlerweile flügge. Anna und Georg zogen nach
Lauchhammer, sobald die ersten Häuser einer neuen
Industriesiedlung fertig waren. Sie hatten eine nette kleine
Wohnung und Anna, immer die Glucke der Familie, fehlten
plötzlich ein paar Kinder um sich herum.
Anneliese wiederum, alle Hände voll zu tun und noch ohne
richtige Wohnung, fand es gar nicht so schlecht, den kleinen
Harro, zumindest für kurze Zeit, in liebevolle Obhut zu geben.
Daraus wurden letztendlich sechs Jahre.
1961, im Jahr meines Schuleintritts, wurde die Familie wieder
zusammen geführt. Ein Zweigenerationenhaushalt in Dammendorf,
mit dem Vorteil, dass die Kinder, inzwischen war Bruder Reiner
lauffähig, den Kindergarten im Haus hatten.
Ich werde Euch nie vergessen, dass Ihr immer für mich da wart -
Danke liebe Oma, danke lieber Opa.
Dies sind die Spuren einer
Königsberger Familie.
Anna (15.12.1903 - 30.09.1986) und Georg Fehrke
(14.10.1900 - 25.02.1987)
und ihre Kinder:
Gerhard |
13.02.1930 |
-
30.04.2001, |
Anneliese |
04.03.1931 |
- 25.05.1986, |
Doris |
geb. am |
03.02.1939. |
Anna und Georg hätten ihre Stadt
gern wieder gesehen. Sie haben nie erfahren, was aus ihr wurde -
außer, dass sie Kaliningrad hieß und militärisches Sperrgebiet
war. Vielleicht ist es auch besser so, denn in ihrer Erinnerung
war es eine sehr schöne Stadt.
Danke, liebe Doris und liebe Tante
Gisela, für Eure unentbehrliche Unterstützung.
Dies ist eine Lebensgeschichte,
die endlich aufgeschrieben werden musste und die fortgeschrieben
wird. Es gibt noch unerschlossene Quellen und vielleicht
Zeitzeugen oder ihre Nachfahren, deren Geschichten mit dieser
verwoben werden können und helfen, Lücken zu schließen. Zögern
Sie nicht, die Zeit läuft uns davon.
Harro Pischel, Juli 2003
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