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Die Geschichte einer Familie & ihre Stadt Königsberg


Anna und Georg Fehrke 1933 in Königsberg.

Meinen Großeltern

Anna und Georg Fehrke

gewidmet, die in Königsberg die

schönsten Jahre ihres Lebens verbrachten.

 

Königsberg - hier ist ein Teil meiner Wurzeln, hier wurden meine Mutter und ihre Geschwister geboren.  Es muss irgendwann Anfang der sechziger Jahre gewesen sein, als eine kleine Blechkassette, in der die wenigen Erinnerungsstücke an die Stadt aufbewahrt wurden, meine Neugier weckte. Der Krieg war lange vorbei und seine Spuren in Ostbrandenburg, wo wir inzwischen lebten, getilgt. Meine Großeltern erzählten nicht sehr gerne über ihre alte Heimat. Das Trauma des Krieges war noch nicht überwunden, ihre Heimatstadt zerstört und unerreichbar. Es tat noch weh und ich wollte ihnen nicht weh tun.
Sie begleiteten mich ohne Verbitterung darüber, mit viel Liebe, durch meine Kindheit. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch geworden. Sie leben in meiner Erinnerung und ein Steinblock aus Granit soll nicht das Einzige sein, was an sie erinnert.
Bereits im Sommer 1944 hatten meine Großmutter und die Kinder Gerhard, 14jährig,  Anneliese und Doris, damals 11 und 5 Jahre alt, die Stadt verlassen, denn der Krieg kam zurück. Mein Großvater war an der Ostfront und vermutlich war er es, der darauf drängte, ahnend, dass die Front vor Königsberg nicht halt machen wird. Gerhard kehrte nach den Sommerferien nach Königsberg zurück. Er sah Ende August 1944 die brennende Stadt und überlebte. Wie durch ein Wunder, blieb der nördliche Roßgarten verschont.
Jetzt, im Juli 2003, wo ich dies schreibe, steht nur noch Doris, das Nesthäkchen der Königsberger Tage, als "Informationsquelle" zur Verfügung. Sie war 4-5 Jahre alt, als sie Königsberg erlebte, ich 8-10, als ich das erste mal danach fragte.  Es ist also leider nicht sehr viel, woraus ein Bild jener Tage rekonstruiert werden kann, aber den Versuch alle mal wert.

Der Schlossteich spielte in vielen Erinnerungen meiner Großeltern eine Rolle. Wie viele Königsberger, zog es auch sie immer wieder dort hin. Der Spaziergang mit den Kindern um den Schlossteich  herum war ein beliebter kleiner Ausflug und niemals langweilig. Man konnte Kahn fahren, die Enten und Schwäne füttern und sich im Sommer etwas Abkühlung verschaffen. Auch die Kaskaden am Nordende waren für die Kinder immer beeindruckend. Die Ostsee, oder eher das (Frische) Haff waren zwar nicht sehr weit, aber eben eine kleine Reise mit Straßenbahn, Bus und/oder Bahn. Wohnte man in der Kuplitzer Straße 6a (Stadtplan 1934, M-5), wie meine Grosseltern, hatte man sozusagen ein Wassergrundstück. Ein paar Schritte bis zum Hinterroßgarten, am Städtischen Krankenhaus vorbei und schon war man da - kaum 200 Meter zu laufen. Hielt man sich am Krankenhaus rechts und ging den Roßgarten entlang, ereichte man in wenigen Minuten den Oberteich mit seinen Badeanstalten. Hier, am nördlichen Ende des Roßgarten, war auch das Roßgärter Tor zu finden. Warum also in die Ferne schweifen ... und wärmer war das Wasser sowieso. Und im Winter? Der selbe Weg,  nur dass man nicht das Badezeug, sondern die Schlittschuhe dabei hatte.
Eingekauft wurde in Tänzers Kolonialwarenladen. Für viele andere Erledingungen musste man halt in die Innenstadt, was am einfachsten mit der Straßenbahn (Linie 1 Richtung Hauptbahnhof) zu bewerkstelligen war, wenn man auf dem Roßgarten zustieg.
Auch Besuche im Tiergarten, draußen in Mittelhufen und die akkurat verschnittenen, kugelrunden Bäume auf der Schlossallee, sind erinnerlich.
Insgesamt muss man sich Königsberg als eine grüne Stadt vorstellen, umgeben von Grün. Der Pregel mit der Insel inmitten der Stadt, Schlossteich und Oberteich runden das Bild von einer sehr lebenswerten Atmosphäre ab.

Allerdings war Königsberg auch immer ein vorgeschobener Militärposten, was  sich in der ungeheuren Anzahl von Kasernen und der damit verbundenen Militärpräsenz am Ort widerspiegelte, die aber einfach dazu gehörte. Allein in unmittelbarer Umgebung der Kuplitzer waren einmal die Roßgarten-, Kronprinz- und Kürassierkaserne. Dieser Umstand und vor allem die beiden nahen Krankenhäuser (Städtisches- und Krhs. d. Barmherzigkeit) ließen die Anwohner den Kriegsbeginn deutlich spüren, auch wenn er sich zunächst immer weiter von der Stadt entfernte.
Ende August 1944 suchte er die Stadt mit katastrophalen Folgen heim. Wie Dresden, Hamburg oder Köln wurde Königsberg, in nur zwei Nächten, durch Bombenangriffe dem Erdboden gleich gemacht. Nach dem Krieg  konnte und sollte das russische Kaliningrad nicht mehr an das alte Königsberg erinnern. Ein historischer Wiederaufbau fand nicht statt und heutige Besucher der Stadt, können das alte Königsberg nur erahnen.
Wenden wir uns nun den Hauptbeteiligten dieser Geschichte zu.

Fuhr man von Königsberg mit dem Auto oder Autobus in Richtung Labiau/Tilsit, kam man nach etwa 15 Kilometern nach Konradswalde. Hier wurde am 15.12.1903 Anna Glaubach geboren. Über Annas Kindheit und ihre Eltern ist nur noch wenig bekannt. Sie hatte zwei jüngere Geschwister: Johanna (Hanne) und einen Bruder. Anna arbeitete im  örtlichen Gasthof oder in einem davon. Jedenfalls lernte sie hier Ende der zwanziger Jahre Georg Fehrke kennen. Georg kam aus Königsberg. Hier wurde er  am 14.10.1900 geboren. Sein Start ins Leben war nicht gerade ein Volltreffer. Er ist das Ergebnis eines "Seitensprunges" einer wohlhabenden Dame aus angesehenem Hause und wurde umgehend zu Adoptiveltern gegeben, den Fehrkes. Dort wuchs er mit seinem jüngeren Stiefbruder Ernst auf. Als er Anna kennen lernte, hatte er bereits eine kleine Tochter, Hertha,  deren Mutter bei ihrer Geburt starb.  Die beiden finden Gefallen aneinander und kommen sich näher. Sehr nahe. Anna wird schwanger. Am 13.02.1930 erblickt Gerhard das Licht dieser Welt. Damals keine so schöne Situation für Anna. Schließlich heiraten beide noch im selben Jahr und ziehen zusammen nach Königsberg in die Kuplitzer Str. 6a. Anna wird sich nunmehr ausschließlich um die Kinder kümmern, während es Georg  immer versteht, die Familie gut zu versorgen. Gelernt hat er Eisenflechter, aber die Baukonjunktur hat Ende der Zwanziger frei. Er schlägt sich durch. Plötzlich verdoppelt sich die Anzahl der Personen, die er zu versorgen hat. Er findet als Schauermann im Hafen Arbeit - eine sehr begehrte Arbeit, fällt doch immer mal irgendwo ein Sack mit Kaffee herunter und platzt auf, oder eine Kisten mit Südfrüchten. Anna muss nicht mehr so oft zu Tänzers Laden, denn Kaffee, Apfelsinen und Bananen bringt Georg mit, die man sich vielleicht sonst auch nicht geleistet hätte. Es geht ihnen gut, denn er verdient auch nicht schlecht dabei.
Georgs Leidenschaft gehört den Tieren. Es scheint so, als spräche er ihre Sprache. Ich erinnere mich an viele Erlebnisse meiner Kindheit im ländlichen Brandenburg, in denen Opa  mit Tieren zu tun hatte, z.B. als Schäfer. Seine Lieblinge aber waren Hunde. Es gab genügend bissige Exemplare, sogar solche, die nur den Besitzer an sich heran ließen - er machte den Zwinger auf und ging hinein, als wären sie Freunde, was sie auch waren, als er wieder heraus kam. Es war unglaublich. Vielleicht wäre er anderswo "Hundeflüsterer" geworden.
Zurück nach Königsberg: Schließlich wurde er also Schweizer (damals übliche Berufsbezeichnung für jemanden, der  Kühe pflegte und melkte) auf einem nahe gelegenen Gut und es  gab ausreichend Milch für die Kinder und hin und wieder einen Rinderbraten.
1931, am 04.03. wird Anneliese erstmals urkundlich erwähnt, die das Schicksal mir als Mutter auswählte und nach einer etwas längeren Erholungspause am 03.02.1939 Doris. Alle Kinder werden zwischen dem 3. Februar und 4. März geboren, was wieder einmal die besondere Bedeutung des Wonnemonats Mai unter Beweis stellt und wovon man damals offenbar konsequenter Gebrauch machte.

Die Familie Fehrke führte ein ganz normales Königsberger Leben, wenn sie auch zu denen gehörte, die die politische Entwicklung im Deutschland der dreißiger Jahre mit großem Unbehagen verfolgte. Spätestens 1939 wurden die Folgen dieser Entwicklung im äußersten Osten Deutschlands zuerst und am deutlichsten spürbar.
Georg wird 1942 zur Wehrmacht einberufen. In Wilhelmshaven bekommt er eine Ausbildung, das Jahr 1943 verbringt er in Wien - er gehört noch zur Reserve. 1944 schließlich kommt er an die Ostfront, in die Gegend von Krasnodar, wo er bald in Gefangenschaft gerät. Er hatte Glück, wie fast alle aus der Familie. Lediglich der kleine Bruder meiner Großmutter, dessen Namen ich bisher nicht herausfinden konnte, starb im Krieg.
Der Rest ist schnell erzählt: Anna und die Kinder Anneliese und Doris kamen im Sommer 1944 nach Cunnersdorf, 30 km nördlich von Dresden, wo Doris noch heute lebt. Sie wurde Pionierleiterin, arbeitete in einem Textilbetrieb und war letztendlich für die Koordinierung der Kulturarbeit des Kreises Großenhain zuständig, bevor sie vor ein paar Jahren in den wohlverdienten Ruhestand ging. Gerhard kam als 15jähriger beim Angriff auf Königsberg mit seiner gesamten Klasse zum Volkssturm. Er wird einer von zweien sein, die überleben. Er sieht russische Panzer durch das Roßgärter Tor kommen, dann trifft ihn ein Granatsplitter im Kopf. Kameraden schleppen ihn irgendwie bis Pillau. Vor dort geht es mit einem der letzten Schiffe Richtung Dänemark. Nach Aufenthalten in verschiedenen Lagern, kommt er im Frühsommer 1947 zur Familie und setzt im September die Schule fort. Er studierte Hüttenwesen in Freiberg und gehörte viele Jahre in verantwortlichen Positionen zur Betriebsleitung  des Braunkohleveredlungskombinates Schwarze Pumpe. Er verstarb 2001, noch bevor ich dieses Projekt begann.
Ihre Halbschwester Hertha ging früh nach Hamburg zu ihrem Onkel Ernst, der Schiffskapitän war. Sie siedelte nach den USA aus, wo sich ihre Spuren in Chicago verlieren, nach denen bislang aber auch noch keiner suchte.
Anneliese wollte eine Verwaltungslaufbahn. Ihr Weg führte sie Anfang der Fünfziger nach Ostbrandenburg in das Dörfchen Dammendorf. Hier wurde sie 1953 Bürgermeisterin, eine der jüngsten der Republik. Sie blieb es bis zu ihrem Tode 1986. Auch in Dammendorf waren Flüchtlinge untergebracht. Die Pischels kamen aus Nieder Tillendorf in Schlesien und Horst, Jahrgang 1934, hatte ein Auge auf die hübsche Blonde aus dem Norden geworfen. Ihm habe ich meine Existenz zu verdanken, die dort 1954 ihren Anfang nahm.
Annas Schwester Hanne  lebte nach dem Krieg im thüringischen Nordhausen, was leider bislang alles ist, was ich von ihr weiß.
Anna und Georg. Auch Georg überlebte Krieg und Gefangenschaft und kam 1947 nach Cunnersdorf. Seine Erfahrungen als Schweizer waren gefragt, denn zuerst musste die Ernährung gesichert werden. So ging es der Familien auch in den schweren Zeiten gut, Hunger mussten sie jedenfalls nicht leiden. Mit dem Aufbau der Wismut AG und den damit verbundenen Verdienstmöglichkeiten, zog es ihn 1949 nach Thüringen. Er brachte es bis zum Obersteiger. Anna und die Kinder blieben in Sachsen, sie sollten nicht schon wieder umherziehen und endlich Ruhe finden. Mit dem Aufbau der Braunkohlenindustrie in Südbrandenburg, speziell in Lauchhammer, hatte Georg die Chance, seiner Familie näher zu kommen. Die Kinder waren mittlerweile flügge. Anna und Georg zogen nach Lauchhammer, sobald die ersten Häuser einer neuen Industriesiedlung fertig waren. Sie hatten eine nette kleine Wohnung und Anna, immer die Glucke der Familie, fehlten plötzlich ein paar Kinder um sich herum.
Anneliese wiederum, alle Hände voll zu tun und noch ohne richtige Wohnung, fand es gar nicht so schlecht, den kleinen Harro, zumindest für kurze Zeit, in liebevolle Obhut zu geben. Daraus wurden letztendlich sechs Jahre.
1961, im Jahr meines Schuleintritts, wurde die Familie wieder zusammen geführt. Ein Zweigenerationenhaushalt in Dammendorf, mit dem Vorteil, dass die Kinder, inzwischen war Bruder Reiner lauffähig, den Kindergarten im Haus hatten.
Ich werde Euch nie vergessen, dass Ihr immer für mich da wart - Danke liebe Oma, danke lieber Opa.


Dies sind die Spuren einer Königsberger Familie.
Anna (15.12.1903 - 30.09.1986) und Georg Fehrke (14.10.1900 - 25.02.1987)  
und ihre Kinder:

Gerhard 13.02.1930 - 30.04.2001,
Anneliese 04.03.1931 - 25.05.1986,
Doris     geb. am   03.02.1939.

Anna und Georg hätten ihre Stadt gern wieder gesehen. Sie haben nie erfahren, was aus ihr wurde - außer, dass sie Kaliningrad hieß und militärisches Sperrgebiet war. Vielleicht ist es auch besser so, denn in ihrer Erinnerung war es eine sehr schöne Stadt.

Danke, liebe Doris und liebe Tante Gisela,  für Eure unentbehrliche Unterstützung.

Dies ist eine Lebensgeschichte, die endlich aufgeschrieben werden musste und die fortgeschrieben wird. Es gibt noch unerschlossene Quellen und vielleicht Zeitzeugen oder ihre Nachfahren, deren Geschichten mit dieser verwoben werden können und helfen, Lücken zu schließen. Zögern Sie nicht, die Zeit läuft uns davon.

Harro Pischel, Juli 2003